Offen für alles?
Martin's Kommentar zum Status des Open-World-Genres
Dieses Jahr hält nach dem letzten Hammer-Trailer für GTA 6 sicher der größte Teil der Gamer in riesiger Erwartung inne oder verbringt den Sommer beim zweiten Death Stranding, da ist es an der Zeit neu über den Stand der Dinge bei Open-World-Games nachzudenken. Vieles ist dazu über die Jahre gesagt worden, aber die derzeitige Technik und der Status des Medienkonsums laden zu ein paar neuen, interessanten Gedanken ein.
Das Feld der Entscheidungen
War das (Nicht-)Genre Open World einst die Verheißung totaler spielerischer Freiheit als es als Konzept noch neu war, haben sich definitiv über die Jahre und seine Verbreitung einige Ermüdungserscheinungen eingestellt. Wir schauen da auch besonders auf dich, Ubisoft!
Durch diverse Nicht-GTAs Open-World-Games kann man einige Erkenntnisse über Game-Design und Spielerführung gewinnen.
Immer schon stellte sich dazu mit der Offenheit die Frage nach der heiklen Balance zwischen Leere und Langeweile: Wie viele Inhalte brauchen die großen Spielwiesen um nicht anzuöden? Und wer kann sich genug Designer dafür leisten? Am anderen Ende wirft sich das Dilemma mit Überforderung und Ablenkung auf: Wie viele Quests möchte man ständig offen haben? Und ab wann werden diese zu viel oder zu kleinteilig? Und dann gibt es sicher noch den Punkt mit Wiederholung und FOMO (Verpassensangst): Wie generisch dürfen die Ubisoft-Erober-Missionen sein ohne zu langweilen? Und wie reagieren die verschiedenen Spieler darauf mit ihrer Zeit, die aber auch ja nichts verpassen wollen?
Warten auf GTA
In diesem Entscheidungsfeld hat sich über die Jahre zudem eine große Konkurrenz der Publisher in dem Genre entwickelt, die immer mehr mit Masse protzen wollen. Geht es dem Marketing nach, galt bisher, je größer die Karte und je länger das Spiel, desto toller der Titel. Sicher haben schon viele diesen Trugschluss verstanden, aber die Kampagnen steuern ja immer auch unterbewusste Trigger an. Und nicht zuletzt steht im Hintergrund jedes Launches der Schatten des übermächtigen GTA als Referenz. Und dort gilt schon den Entwicklungsaufwänden entsprechend, dass jede neue Version der selten erscheinenden Reihe Maßstäbe setzen soll, muss und möchte. Das gilt bei der harten Gaming-Community, aber vielleicht sogar noch mehr bei der abwartenden Gruppe der Gelegenheitsspieler, die GTA mit Gaming gleichsetzen. Denn auch wenn viele es insgeheim anstreben, gegen GTA 6 wird auch in den Monaten um dessen Erscheinen niemand anstinken können.
Wenn es dann endlich soweit sein wird, dann wird es alle Aufmerksamkeit von Fachmedien, Streamern und Gelegenheitsspielern auf sich ziehen. Und das sogar falls es anfangs vielleicht nicht ganz alle Erwartungen erfüllen können sollte. Dieses schwarze Loch der Medienaufmerksamkeit ist dann nochmals schlimmer für diejenigen, die sich der Komplettierung der Titel verschreiben. Hier hatte Entwickler Rockstar schon mit seinem letzten großen Hit Red Dead Redemption 2 den Rahmen komplett überspannt, so dass es letztlich sogar einigen Engagierten zu viel wurde.
Snackbar
Ein anderer großer Vorteil den zumindest sehr viele Open-World-Titel inhärent durch die notwendige Verteilung ihrer Inhalte mitbringen, ist jedoch ihre Kleinteiligkeit, die es sehr leicht erlaubt, schnell mal für weniger als eine Stunde sinnvoll einzutauchen und ein paar simple Missionen “abzuarbeiten”, oder schnell noch was von den unendlichen Sammelgegenständen zu “finden”.
Das ist schön für Vielbeschäftigte und hilfreich in einer überschnelllebigen Welt. Dennoch leidet bei diesem Muster selbstredend die tiefe Immersion. Ein Abtauchen, ein sich in der Zeit und Welt verlieren, wird ständig abgewürgt durch die kleinen Häppchen an Gaming-Snacks. Jeder muss sich vielleicht selbst beantworten, ob diese Person das überhaupt so will im Leben. Auch wenn die Immersion ja mal ein Kernversprechen von Games war.
Aufmerksamkeitsökonomien
Aber man kann sich hier auch kaum noch was vormachen: Spiele müssen sich inzwischen ihre Beachtung schwer erkämpfen in einem Medienmarkt in dem so unendlich viele Quellen dieser Tage um unsere Aufmerksamkeit balzen. Auch wenn klassisches Fernsehen fast verschwunden ist, so versenkt man dieser Tage doch deutlich mehr Zeit dafür in Streamingdienste um mit dem unendlichen Nachschub an “Qualitäts”-TV mithalten zu können. Zudem verlieren sich die Nutzer noch mehr und mehr in Social-Media-Apps, allen voran die TikTok-Abhängigen mit deren Slotmaschinen-Algorithmus aus Dopamin-Videoschnipsel.
Hier müssen Spiele schon heftig auffahren um außerhalb der Gamer überhaupt angenommen zu werden. Open-World-Titel mit ihren tiefen Welten und Inhalten könnten unter dieser Betrachtung gelegentlich schon fast aus der Zeit gefallen wirken.
Und dennoch faszinieren sie uns immer aufs Neue mit ihren Versprechungen der freien Erkundung und dem Abtauchen in neue Welten. Sei es nun Cyberpunk-Städte, der alte Westen, ein Star-Wars-Universum oder das feudale Japan.
Woher befüllen?
Wie schwierig es ist die Füllhörner des Contents immer wieder in einem spannenden Inhalte-Mix herzustellen, zeigt sich wohl nirgends prägnanter als im tragischen Fall der Firma Ubisoft. Diese hatten das Genre mit Assassin’s Creed und FarCry in den letzten 15 Jahren prägend mitdefiniert. Allerdings ergab für das Management daraus das fehlgeleitete Signal fast nur noch auf die Titel dieses Genres zu setzen, die in irrem Tempo fast im Jahrestakt rauszuhauen und darauf im Prinzip den Unternehmenserfolg zu setzen. Zwar sind sie sehr effektiv in deren Produktion geworden, allerdings zeigten sich doch nach ein paar Jahren bald Ermüdungserscheinungen der Gamer an der berüchtigten Ubisoft-Formel. Auch wenn das letztlich erkannt wurde und z.B. beim sehr guten Assassin’s Creed Shadows wenig sichtbar war, muss sich zeigen ob es nun nicht schon zu spät war und die Firma hoffentlich überlebensfähig bleibt.
Der negative Effekt solcher Entwicklungsstrategien zeigt sich zudem auch bei den einzelnen Entwicklern selbst, die hart unter Burnout, Crunch, Churn und Entlassungen leiden und das nicht eine lange Karriere lang durchhalten. Der Traumjob wird so schnell zur Zwickmühle. Beispielhaft sei auch bemerkt, dass es bei Kreativen, die es geschafft haben dieser Unternehmenssituation zu entkommen, Großartiges entstehen kann mit kleinerem Wasserkopf und mehr kreativem Freiraum. Die Macher hinter dem tollen Stray und dem unheimlich erfolgreichem Claire Obscure: Expedition 33 bewiesen, wie befreiend der Ausstieg und die Limitierung auf etwas kleinere Games seien können.
Und gleichzeitig beweisen solche Perlen dann noch wie die Antithese zum Einsatz von Computerunterstützung sein kann. Zwar gab und gibt es beliebte Titel wo die Nutzung generativer Algorithmen schon lange erfolgreich eingesetzt wird. Das beste Beispiel dafür kennt jeder bei den Action-RPGs der Diablo-Reihe. Doch nun gewinnt das Thema in den letzten zwei Jahren eine ganz andere Dimension mit neuartiger generativer KI in der Spieleentwicklung in ureigenen menschlichen Inhalten wie Dialogen, Skripten und der künstlerischen Gestaltung der riesigen Spiellandschaften. Man kann es den Entwicklern kaum verdenken, dass sie sich gezwungen sehen solche Algorithmen einzusetzen, sind die ökonomischen Zwänge in dem Feld doch seit Corona nur deutlich härter geworden. In der Wahrnehmung der Spieler zeigen sich solche Outputs wegen ihrer Austauschbarkeit weiterhin nur kaum akzeptiert.
Geschlossenere Welten
Wo liegt nun die Lösung dieser vertrackten Situation aktuell? Wie findet das nächste moderne Open-World-Spiel seinen perfekten Platz im Markt zu handhabbaren Kosten? Und wie gehen die Entwickler sorgsam mit der Zeit ihrer Spieler um und bieten ihnen gleichzeitig dabei genug für den Preis?
Sollten wieder mehr Titel sich limitieren und von Open-World weg hin zum auch beliebten Open-Schlauch-Aufbau? Also einer lineareren Erfahrung mit streckenweise offenen Bereichen? Bei vielen Titeln hat sich das bewährt. Die letzten Tomb-Raider-Teile haben das ziemlich perfektioniert und uns hier sehr, sehr viel Freude bereit und auch genug Inhalte geboten. Vielen wird das sicher dennoch nicht offen genug gewesen sein.
Versteht uns nicht falsch: Auch wir lieber Open-World-Spiele oft, aber sie müssen es wirklich in ihrer Qualität wert sein. Andernfalls sind sie gefährlich für die Spielerseele wie ein Unlimited-Fast-Food-Ticket. Klingt lecker, befriedigt konstant ein bisschen, aber hält einen mit leeren Kalorien am Snacken.
Neue Wege
Und wo soll sich das Genre dann auch in Zukunft noch hin entwickeln überhaupt? Nur noch massenweise KI-generierte Content-Ströme wie schon bei Netflix, Spotify und co.? Das können wir nicht wollen. Immerhin werden die Spiele in einigen Jahren auch technisch noch mal ganz anders aufgenommen werden. Wer will schon solche schalen Inhalte in einer Zukunft der Holodeck-Zimmer verbringen. Dann wäre die Matrix-Dystopie-Option ja schon fast die bessere Wahl.
Vielleicht lässt ein besserer Weg finden. Kleinere Titel, auch gerne mit überschaubaren offenen Welten, z.B. mittelgroße Inseln oder gar nur mal einen Stadtteil, können im Bereich AA-Titel und für zeitlimitierte Spieler ein guter Mittelweg sein. Oder auch nur mal eine kleinere, künstlerisch dichtere und stärkere Installation, also wirkliche Mini-Perlen an Open-Worlds, die den Spielenden auch mal komplexe Fragen stellen statt unendlicher Seicht-Quests. Death Stranding 1 und 2 sind zwar größer als das, aber zeigen hier schon den richtigen Weg.
Und man könnte natürlich auch den Weg sich langfristig entwickelnder Open-Worlds gehen. Fast so wie in MMORPGs oder GTA Online nur mit viel längerer, langsamerer Entwicklung und persistenter Veränderung der Stadt und Karten. Eher so eine Art wirklicher Lebenssimulation. So etwas sieht man derzeit kaum oder wenn dann nur im asiatischen Fantasy-Kontext.
Hoffnung am Horizont
Was immer ihr persönlich bevorzugt, aber das Genre wird sich hoffentlich weiterentwickeln können. Nicht jeder kann das nächste GTA abliefern, und das müssen und sollten die Studios auch nicht alle. Die Publisher werden das hoffentlich auch mal verstehen. Da werden wir 2027 klüger sein wie es ausgeht.
Wir hoffen nur, dass die großen Brecher nicht komplett die Luft und das Budget aus dem Feld abziehen und auch für viele Geschmäcker, Spielertypen und zeitkontingente Titel kommen werden, die man entspannt ohne extra Urlaub genießen können wird.
Schreib uns doch auf den Socials was ihr zum Umfeld des Open-World-Genres aktuell und in der Zukunft denkt.